Die Kinostarts hinter sich lassen. 2016 und seine erweiterten Highlights.
Zur Vorjahresliste hier entlang.
Ich glaube, es war die Meldung, dass Paul Verhoevens „Elle“ keinen deutschen Kinostart bekommen sollte, der mich erstmals ernsthaft daran denken ließ, auf Kinostarts als Bestenlistenkriterium in Zukunft für alle Male zu scheißen.
Mittlerweile ist ein Kinostart für 2017 angesagt, aber das interessiert mich nicht mehr.
Denn wenn wir ehrlich sind, ist das Kino, wie wir es kennen, in einer Ära der todkranken Altersschwäche angekommen. Es stirbt sukzessive und wird den Weg frei machen für neue Rezeptionsmodi des filmischen Mediums. Kinostarts wird es weiterhin geben, aber sie werden immer weiter an Relevanz verlieren bis sie schließlich bedeutungslos sein werden.
Video on Demand wird bereits als das neue Ding akzeptiert. Für den Filmkunstliebhaber ist es das noch lange nicht. Stattdessen sind Festivals wichtiger denn je darin, neue aufregende Weltkinoerfahrungen an den Mann zu bringen. Glücklicherweise funktioniert das zurzeit ganz gut. Festivals sind oft ausverkauft, locken Sponsoren an etc.
Es ist ironisch, dass derselbe ungarische Film auf der Berlinale restlos ausverkauft ist und dann, wenn er einen Verleih bekommen würde, von niemandem im Kino angesehen werden würde.
Aber so ist eben. Vielleicht hat auch das anspruchsvolle Ins-Kino-Gehen etwas von dem Eventcharakter bekommen, der das Mainstreamkino seit Jahren zeichnet.
Die Festivals sind zu einem Zufluchtsort geworden. Sie machen Film noch mehr zu einem urbanen Phänomen als es sonst schon (fast) immer war.
Auch illegale Vertreibungsformen sind noch immer ein Thema und sie werden es bleiben, solang Video on Demand nicht die volle Bandbreite des Filmgenusses abdecken wird. Schlimm ist das nicht, denn die Dimensionen der Filmpiraterie schaden dem Film kaum. Schaden tut dem Film nur das generelle Desinteresse und (pop)kulturelle Monopolisierung. Aktuell sind Netflix und Co noch nicht in der Lage, Filmpiraterie vollständig überflüssig zu machen. Auch wenn Leute, die einen weniger geweiteten filmischen Horizont haben, das glauben, aber die Unweite des Netflix-Horizonts macht daraus wiederum ein Teufelskreis.
Was also von nun an für meine Bestenlisten und auch für die kommende Verleihung der Goldenen Tellerränder relevant sein wird, ist die bloße Verfügbarkeit des Films auf sämtlichen Kanälen und umstreckt damit eine Produktionsjahrspanne von mindestens drei Jahren (in diesem Fall 2016 bis 2014). Solange können Filme nunmal brauchen, um verfügbar zu werden. Das ist bei Kinostarts aber ja auch nicht anders (gewesen).
Es gibt eine Handvoll Filme, die ich letztes Jahr bereits sah, aber die erst dieses Jahr ins Kino kamen. Diese wurden letztes Jahr für die diesjährige Liste „aufgespart“, was zur Folge hat, dass es in diesem Jahr einen „doppelten Jahrgang“ gibt.
Schmerzbereitend:
104. „Deadpool“ (Tim Miller, 2016)
103. „Mahana — Eine Maori-Saga“ (Lee Tamahori, 2016)
102. „Alone In Berlin“ (Vincent Perez, 2016)
101. „Bang Gang — Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus“ (Eva Husson, 2016)
100. „Love Island“ (Jasmila Zbanic, 2016)
99. „The Owners“ (Adilkhan Yerzhanov, 2014)
98. „Lily Lane“ (Benedek Fliegauf, 2016)
Es gibt Filme, die einfach schlecht sind, ohne besser sein zu wollen. Hier muss man einfach ihre bloße Existenz in Frage stellen.
Welchen Sinn hatte es, ein schlechtes Drehbuch wie „Mahana“ zu verfilmen? Oder „Jeder stirbt für sich allein“ zum tausendsten Mal zu verfilmen und so seelenlos und hauptsache starbesetzt umzusetzen? Richtig, reine Geldmacherei. Und dass letzterer Film wirklich im Berlinale-Wettbewerb (!) lief, ist eine Schande. Das überträgt den kommerziellen Gedanken des Kinos in Zeiten des Neoliberalismus auf den Rückzugsort Film-Festival. Sowas darf nicht passieren.
Natürlich wurden massig andere Filme dieses Schemas in diesem Jahr gemacht, aber von mir glücklicherweise nicht angesehen.
Dann gibt es Filme, die gescheitert sind oder schlichtweg nicht meinen Geschmack treffen. Gut, sowas passiert. Auch wenn ich fortwährend versuche, meinen Geschmack gezielt neuen Erfahrungen auszusetzen, um ihn für neue Eindrücke zu öffnen.
Schwach:
97. „The Danish Girl“ (Tom Hooper, 2015)
96. „The Neon Demon“ (Nicolas Winding-Refn, 2016)
95. „Midnight Special“ (Jeff Nichols, 2016)
Wirklich schlimm sind jene Filme, die gefährliche Ideologeme beinhalten. Zum Beispiel „The Danish Girl“, der Transsexualität als Krankheit erzählt. Oder „Bang Gang“, der sich als erzkonservativer Fatalismus-Mist entpuppt. Oder „Deadpool“, der im Grunde genommen Pop-Faschismus ist.
Durchschnitt:
94. „News From Planet Mars“ (Dominik Moll, 2016)
93. „The Girl King“ (Mika Kaurismäki, 2015)
92. „Divines“ (Uda Benyamina, 2016)
91. „Things To Come“ (Mia Hansen-Løve, 2016)
90. „Maikäfer flieg“ (Mirjam Unger, 2016)
89. „Dog Days“ (Jordan Schiele, 2015)
88. „Cosmos“ (Andrzej Żuławski, 2015)
87. „Evolution“ (Lucile Hadzihalilovic, 2015)
86. „Letters From War“ (Ivo Fereira, 2016)
85. „I Promise You Anarchy“ (Julio Hernández Cordón, 2015)
84. „Der Nachtmahr“ (Achim Bornhak, 2015)
83. „The Lobster“ (Giorgos Lanthimos, 2015)
Wir unterbrechen das Ranking mit einem anderen Ranking. Die größten Enttäuschungen des Jahres.
Top 10 der Enttäuschungen
10. „Big Big World“ (Reha Erdem, 2016)
09. „The Lobster“ (Giorgos Lanthimos, 2015)
08. „The Handmaiden“ (Park Chan-Wook, 2016)
07. „Tschick“ (Fatih Akin, 2016)
06. „Graduation“ (Cristian Mungiu, 2016)
05. „Things To Come“ (Mia Hansen-Løve, 2016)
04. „Nocturama“ (Bertrand Bonello, 2016)
03. „Elle“ (Paul Verhoeven, 2016)
02. „Die Kommune“ (Thomas Vinterberg, 2016)
01. „Bang Gang — Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus“ (Eva Husson, 2016)
Bei manchen Filmen störte einfach zu eine große Erwartungshaltung. „Die Kommune“ galt z.B. 2015 einfach aufgrund des Themas und wegen Thomas Vinterberg als der Topfavorit auf den Film des Jahres. „Big Big World“ und „Graduation“ sind beides ganz gute Filme, aber von Erdem und Mungiu habe ich mehr erwartet.
In „The Lobster“ konnte ich nicht die scharfsinnige Gesellschaftssatire erkennen, die man dem Film nachsagt. Ähnliches bei „Elle“, der das große Verhoeven-Comeback sein sollte, aber in mir einfach nichts ausgelöst hat. „The Handmaiden“ war pseudofeministisch und ansonsten typisch Park Chan-Wook halt. Nicht so sehr mein Fall. „Nocturama“ und „Bang Gang“ wählten Themen, die mich sehr interessierten und die mich mit ihrem Scheitern umso mehr verletzten. „Tschick“ hätte von jedem anderen Regisseur kommen können, war aber von Fatih Akin, der mal ein Idol für mich war. Menschlich ist er das immer noch, aber filmisch nicht mehr.
Solide:
82. „Die Kommune“ (Thomas Vinterberg, 2016)
81. „Mustang“ (Deniz Gamze Ergüven, 2015)
80. „Genius“ (Michael Grandage, 2016)
79. „A Dragon Arrives!“ (Mani Haghighi, 2016)
78. „Der Bunker“ (Nikias Chryssos, 2015)
77. „Dirty Cops — War on Everyone“ (John Michael McDonagh, 2016)
76. „United States of Love“ (Tomasz Wasilewski, 2016)
75. „Tschick“ (Fatih Akin, 2016)
74. „Wawa No Cidal“ (Yu-Chieh Cheng & Lekal Sumi, 2015)
73. „Jamais contente“ (Emilie Deleuze, 2016)
73. „Theeb“ (Naji Abu Nowar, 2015)
72. „Memories On Stone“ (Shawkat Amin Korki, 2015)
70. „Rogue One: A Star Wars Story“ (Gareth Edwards, 2016)
69. „While The Women Are Sleeping“ (Wayne Wang, 2016)
68. „Hedis Hochzeit“ (Mohamed Ben Attia, 2016)
67. „Creepy“ (Kiyoshi Kurosawa, 2016)
66. „The Wounded Angel“ (Emir Baigazin, 2016)
65. „Caracas, eine Liebe“ (Lorenzo Vigas, 2015)
64. „Brooklyn“ (John Crowley, 2016)
63. „Arrival“ (Denis Villeneuve, 2016)
62. „The Handmaiden“ (Park Chan-Wook, 2016)
61. „Nocturama“ (Bertrand Bonello, 2016)
60. „Einer von uns“ (Stephan Richter, 2015)
Ganz cool:
59. „Zero Days“ (Alex Gibney, 2015)
58. „Saint Amour“ (Gustave Kervern und Benoît Delépine, 2016)
57. „Yourself And Yours“ (Hong Sang-Soo, 2016)
56. „Graduation“ (Cristian Mungiu, 2016)
55. „Viktoria“ (Maya Vitkova, 2014)
54. „I, Daniel Blake“ (Ken Loach, 2016)
53. „Murmur Of The Hearts“ (Sylvia Chang, 2015)
52. „Hail, Caesar!“ (Joel & Ethan Coen, 2016)
51. „Valley Of Love“ (Guillaume Nicloux, 2015)
50. „Elle“ (Paul Verhoeven, 2016)
49. „24 Wochen“ (Anne Zohra Berrached, 2016)
48. „Safari“ (Ulrich Seidl, 2016)
47. „Death In Sarajevo“ (Danis Tanovic, 2016)
46. „Boris Without Béatrice“ (Denis Côté, 2016)
45. „Spotlight“ (Tom McCarthy, 2015)
44. „The Hateful Eight“ (Quentin Tarantino, 2015)
43. „Heaven Knows What“ (Ben Safdie, 2014)
42. „Chi-Raq“ (Spike Lee, 2015)
41. „Room“ (Lenny Abrahamson, 2015)
40. „The Chosen Ones“ (David Pablos, 2015)
39. „Big Big World“ (Reha Erdem, 2016)
38. „Casa Grande“ (Fellipe Barbosa, 2015)
Honorable Mentions:
37. „Chronic“ (Michel Franco, 2015)
36. „Théo & Hugo“ (Olivier Ducastel & Jacques Martineau, 2015)
35. „The Big Short“ (Adam McKay, 2015)
34. „Fire At Sea“ (Gianfranco Rosi, 2016)
33. „Don’t Call Me Son“ (Anna Muylaert, 2016)
32. „Krigen — A War“ (Tobias Lindholm, 2015)
31. „American Honey“ (Andrea Arnold, 2016)
30. „Crosscurrent“ (Yang Chao, 2016)
29. „Nocturnal Animals“ (Tom Ford, 2016)
28. „The Revenant — Der Rückkehrer“ (Alejandro González Iñárritu, 2015)
27. „Princess“ (Tali Shalom-Ezer, 2014)
26. „Koza“ (Ivan Ostrochovský, 2015)
Die Top 25 der besten Filme 2016:
25. „Son Of Saul“ (Laszlo Nemes, 2015)
24. „Ja, Olga Hepnarová“ (Petr Kazda & Tomás Weinreb, 2015)
23. „Soy Nero“ (Rafi Pitts, 2016)
22. „Scarred Hearts“ (Radu Jude, 2016)
21. „Wild“ (Nicolette Krebitz, 2016)
20. „Louder Than Bombs“ (Joachim Trier, 2015)
19. „A Bride For Rip Van Winkle“ (Shunji Iwai, 2016)
18. „Wintergast“ (Andy Herzog & Matthias Günter, 2015)
17. „Vor der Morgenröte“ (Maria Schrader, 2016)
16. „Aquarius“ (Kleber Mendonça Filho, 2016)
15. „Tangerine“ (Sean Baker, 2015)
14. „Right Now, Wrong Then“ (Hong Sang-Soo, 2015)
13. „Anomalisa“ (Charlie Kaufman, 2015)
12. „Raman Raghav 2.0“ (Anurag Kashyap, 2016)
11. „Corrections Class“ (Ivan I. Tverdovskiy, 2014)
10. „The Salesman“ (Asghar Farhadi, 2016)
09. „Embrace Of The Serpent“ (Ciro Guerra, 2015)
08. „The Woman Who Left“ (Lav Diaz, 2016)
07. „After The Storm“ (Hirokazu Koreeda, 2016)
06. „Being 17“ (André Téchiné, 2016)
05. „A Lullaby To The Sorrowful Mistery“ (Lav Diaz, 2016)
04. „Cemetery Of Splendour“ (Apichatpong Weerasethakul, 2015)
03. „Toni Erdmann“ (Maren Ade, 2016)
02. „Ilegitim“ (Adrian Sitaru, 2016)
01. „Sieranevada“ (Cristi Puiu, 2016)
Erkenntnisse:
1. Rumänien ist Filmweltmeister: Es ist tatsächlich ein rumänisches Jahr geworden. Zwei rumänische Filme im diesjährigen Cannes-Wettbewerb, Platz eins und zwei für Rumänien. Drei rumänische Filme in der Top 25. Und der in Rumänien gedrehte „Toni Erdmann“ ist da nicht einmal mit einberechnet.
2. Lav Diaz ist kein Mensch: Lav Diaz lief dieses Jahr in zwei der drei größten Filmfestivals im Wettbewerb. Gut, das schaffte Jeff Nichols zum Beispiel auch. Aber nicht mit einem vier- und einem achtstündigen Film. Und auch nicht mit einem Alfred-Bauer-Preis und dem Gewinn des Goldenen Löwen in Venedig. Und auch nicht mit soviel Eigenanteil an der Enstehung seiner Film. Beim Venedig-Gewinner „The Woman Who Left“ übernahm Diaz sowohl Montage, als auch Kamera, Produktion, Drehbuch und Regie. Respekt!
3. Französisches Kino enttäuscht trotz Stilwillen: Französische Filme waren auch 2016 die mutigeren Autorenfilme als zum Beispiel die deutschen Produktionen. Sie gefielen mir aber überdurchschnittlich selten. „Elle“ sah zwar edel aus, aber ich habe nicht verstanden, worauf er hinauswollte. „Things To Come“ empfand ich als arrogant, weil er sich nur für seine achso-gebildeten Leute interessierte, ohne dabei wirklich etwas auszusagen. „Divines“ war genau das Gegenteil, weil er sich zwar mit dem multiethnischen Prekariat auseinandersetzte, aber merkwürdige Ideale proklamierte. „Evolution“ war einfach nicht mein Ding. Und „Bang Gang“ war einfach ein Unding … Nur „Being 17“ konnte da einen gelungenen Gegenpol setzen.
4. Englischsprachige Produktionen so schwach wie nie: Unter den besten 25 sind nur vier englischsprachige Produktionen und davon wiederum sind nur zwei Film aus den USA. Letztes Jahr waren es bei beidem doppelt so viele Filme.
5. Deutschland braucht Maren Ade: Es ist nicht so als würde Deutschland überhaupt keine guten Filme produzieren. Aber bislang waren herausragende deutsche Filme absolute Einzelfälle, die auf keine kontinuierlich liefernden Autorenfilmer zurückzuführen waren. „Oh Boy“ oder „Victoria“ waren zum Beispiel beide brillant. Aber Jan-Ole Gerster und Sebastian Schipper werden in den nächsten Jahren vermutlich nicht mit weiteren Filmen international renommierte Festivals unsicher machen. Das hängt damit zusammen, dass in der deutschen Filmbranche kaum ein Autorenbewusstsein herrscht und man die beiden Filme nicht zu Gerster- oder Schipper-Filmen gemacht hat. Und andererseits möglicherweise auch damit, dass deutsche Filmemacher selbst kein Interesse haben, Autorenfilmer zu sein, da das meistens finanziell weniger lukrativ ist, als sein Fähnchen irgendwie in den Wind zu halten. Deutschland braucht Radikale, Idealisten und Nonkonformisten. Die deutsche Filmlandschaft muss gezielt wieder Auteurs fördern.
Maren Ades Sensationserfolg könnte dafür wegweisend sein. Zumindest Ade muss man zu einer Großen in einer Tradition von Herzog, Kluge, Wenders usw. aufbauen. Man muss ihr ein saftiges Budget und künstlerische Freiheit geben und sie das nächste Cannes-Ausrufezeichen machen lassen. Aber Cannes wird Maren Ade wahrscheinlich eher noch selbst aufbauen als es die deutsche Filmbranche tun wird. Es gibt hierzulande zu viele Filmemacher und zu wenig Genies. Das System braucht keine Genies, zum Geldverdienen braucht man keine Genies. Um die Goldene Palme zu gewinnen aber schon.
Interessant auch, dass alle drei deutschen Filme in meiner Top 25 von Frauen gedreht sind. Auch Nicolette Krebitz oder Maria Schrader haben nach ihren famosen Filmen das Recht, ihren Erfolg als Autorenfilmerin zu kontinuieren. „Wild“ oder „Vor der Morgenröte“ hätten von ihrer Qualität her auch in Cannes laufen können.
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